Der beherzte Patient

Vom gesunden Umgang mit Krankheit

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Die verbindende Kraft der Akupunktur

(Blog) Akupunktur ist keine Methode oder eine Dienstleistung, sondern Kunst. Um sie zu verstehen, muss man sich vom Nadelstechen lösen – sagt Dr. med. Michael Hammes, Facharzt für Neurologie, Arzt für Chinesische Medizin und Schmerztherapeut in Bad Homburg bei Frankfurt. Wir haben uns vor vier Jahren kennengelernt und sind gute Freunde geworden. Dass der „Beherzte Patient“ entstanden ist, ist auch diesem beherzten Arzt zu verdanken. Michael Hammes über die wichtige Rolle des Patienten bei der Behandlung, den Wert der alten Meister, Sinn und Unsinn von Statistiken und die verbindende Kraft der Akupunktur. (English abstract see end.)

Der beherzte Patient: Mich hat einmal eine Ärztin verbessert, als ich Akupunktur eine „Methode“ nannte – sie sagte, Akupunktur sei eine Kunst. Bist Du ein Künstler?

Dr. med. Michael Hammes: Arzt zu sein ist eine Kunst. Damit meine ich, dass das, was wir Ärzte tun, über eine bloße Methode oder eine Dienstleistung hinausgeht. Es wird oft völlig übersehen, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient sehr persönlich und individuell ist, wobei die Professionalität auf Seiten des Arztes natürlich Voraussetzung ist. Kunst ist auch die gesamte Medizin, denn sie ist umfassend oder ganzheitlich – zumindest verstehe ich sie so. Über die Akupunktur komme ich mit dem Patienten in einen besonderen Kontakt, es ist eine innige Form des Miteinanders im Ringen um Gesundheit. Dabei wird meistens auch völlig übersehen, dass der Fokus nicht nur auf dem Arzt liegt. Auch der Patient kann viel zum Gelingen einer Behandlung beitragen.

Wie macht er das?

Na ja, manchmal kann der Patient nicht aktiv mitmachen, wenn er zum Beispiel bewusstlos oder unter Narkose ist. Wobei auch hier der Umgang des Arztes mit ihm unbewusst, über das vegetative Nervensystem, wirken kann. Wenn der Patient bei Bewusstsein ist, ist es wichtig, dass er sich öffnen kann, dem Arzt vertraut. Dass er bereit dafür ist, dass mit den Akupunkturnadeln Kräfte auf ihn einwirken, die sein Inneres ausgleichen. Er sollte aufmerksam beobachten und erspüren, was sich während der Sitzungen tut. Dabei hilft, dass mit der Akupunktur auch eine Entspannung eintritt.

Aber das musst Du ihm erst einmal erklären …

Natürlich, aber dazu reichen wenige Worte. Die eigentliche Kunst fängt schon bei der Anamnese an, bei der ich mich mit dem Patienten einschwinge. Ich gebe mich nie mit Symptomen zufrieden, sondern möchte genau wissen, wann, in welchen Zusammenhängen sie auftreten, wie sich das genau anfühlt, was er sonst noch für Erkrankungen oder Schwachstellen hat und so weiter. Deshalb nehme ich mir für die Anamnese auch immer viel Zeit.

Dieses Vorgehen erinnert mich sehr an andere komplementärmedizinische Methoden, Homöopathie oder Ayurveda zum Beispiel. Hier geht es doch vor allem um die Aktivierung der Selbstheilungskräfte.

Ja, das Prinzip ist überall ähnlich. Mensch, Krankheit, Gesundung, wie das alles zusammenhängt, zieht sich durch alle Weisheitstraditionen. Es liegt am Patienten, was er annehmen kann und will.

Zurück zur Akupunktur – was geschieht dabei eigentlich?

Um das zu verstehen, müssen wir uns vom reinen Nadelstechen lösen. Es ist ein Instrument, mit dem der Arzt Prozesse in Gang setzt. Er schaut auf die innere Ordnung des Patienten, auf dessen Qi-Fluss bzw. auf mögliche Blockaden. Über seine Kenntnis möglicher Einflusspunkte und seine Intuition verschafft er sich dann Zugang zu den Orten, an denen er eine ausgleichende Regulation anstoßen oder sogar eine neue Ordnung herbeiführen kann.

Also das heißt, der Patient wird krank, weil etwas bei ihm oder in ihm in Unordnung geraten ist?

So ungefähr. Gerade unsere westliche Welt trennt so gerne: Wissenschaft und Kunst zum Beispiel. Die Wissenschaft zerfällt weiter in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, die Kunst in Musik, Malerei und so weiter. Im Körper und in der Seele eines Menschen hat die Trennung der Dinge ein immens krankmachendes Potenzial. In der Chinesischen Medizin geht es darum, die Einheit wieder herzustellen, die Dinge miteinander in Einklang zu bringen. Zum Beispiel hat die Hirnforschung bewiesen, dass wir allgemein in einem wesentlich besseren Zustand sind, wenn wir nicht alleine sind, also eingebunden sind in Familie, Freundes- und Kollegenkreis. Isolation macht krank, Integration dient dagegen der Gesundheit.

Du hast als Dozent jahrzehntelang Ärzten die Akupunktur beigebracht. Unterscheidet sich die Akupunktur, wie sie heute hier praktiziert wird, von den Vorstellungen, wie sie die alten Chinesen hatten?

Es gibt in Deutschland Gesellschaften, die versuchen zu kopieren, was die Chinesen heute machen. Andere vertreten ein Potpourri aus der chinesischen Tradition, eigenen Erfahrungen, reflextherapeutischen Ansätzen und modernem neurophysiologischem Verständnis. All diesen Ansätzen fehlt leider etwas ganz Entscheidendes, nämlich der tiefgehende Kontakt zu den Erkenntnissen, wie sie die alten Schriften liefern und einzelne Menschen kennen und beherrschen. Damals wurde das Wissen über eine enge Lehrer-Schüler-Beziehung weitergegeben. Die alten Schriften bestehen meistens aus Dialogen zwischen Lehrer und Schüler, in denen beide um Erkenntnis ringen. Dazu gehörte auch ganz praktisch die Einübung von Selbsterfahrung und Selbstdisziplin, Fähigkeiten, die sich schlecht aus Büchern lernen lassen. Eigentlich braucht man dazu einen Meister.

Hattest Du einen?

Jein. In meiner Zeit in China hatte ich mit einigen Menschen zu tun, die sich tief mit den Wurzeln der Chinesischen Medizin, also auch der Akupunktur, auseinandergesetzt haben und die mir die Gelegenheit gegeben haben, unter ihrer Aufsicht zu üben. Ich hatte also nicht den Meister. Aber wenn man begriffen hat, worum es geht, kann man sich auch mit einem Meister verbinden, ohne dass der physisch präsent ist. Das ist allerdings in unserer modernen Welt schwer nachvollziehbar.

Passiert bei der Akupunktur eigentlich immer, was Du erwartest?

Nein. Mit der Erfahrung wird das zwar immer ein bisschen besser. Aber hier kommt der Patient ins Spiel: Er berichtet mir, wie etwas wirkt, und so arbeiten wir zusammen. Das ist höchst individuell und hat auch mit Leitlinien nichts zu tun. Die bieten Anhaltspunkte, das ist alles. Ich muss dem Patienten gerecht werden, keinen Leitlinien.

Du bist Facharzt für Neurologie und als solcher auch am Krankenhaus tätig. Wie lassen sich diese beiden medizinischen Richtungen verbinden?

Das ist nicht schwierig. All die Ebenen, auf denen wir medizinisch arbeiten, sind letztlich unvollkommen. Als Arzt muss ich lernen herauszufinden, auf welche Weise sich ein Problem beim Patienten manifestiert. Dabei hilft mal mehr die Schulmedizin, mal mehr die Herangehensweise der Chinesischen Medizin, oft beides zusammen. Manchmal ist es etwas sehr Komplexes, dann arbeite ich integriert auf verschiedenen Ebenen. Und manchmal ist es auch nur ein eingeklemmter Nerv.

Wie sieht es mit der Behandlung einer solch komplexen Krankheit wie Krebs aus?

Jede körperliche Krankheit, die sich nicht mit einfachen Mitteln beseitigen lässt, wird früher oder später das Geistige und Seelische eines Menschen in Mitleidenschaft ziehen – und umgekehrt. Deshalb muss ich mir immer alle Ebenen anschauen. Es reicht eben nicht, nur einen Tumor zu bekämpfen. Wir müssen den ganzen Menschen behandeln. Leider gibt es in der Medizin eine Zersplitterung der Disziplinen, so dass diese ganzheitliche Behandlung schwierig wird. Der Patient muss sich dann mehrere Ärzte mit unterschiedlichen Herangehensweisen suchen, und dazu hat nicht jeder die Kraft oder auch die Möglichkeiten. Leider wird ihm in unserem medizinischen System vorgegaukelt, er sei in besten Händen. Trotzdem merken viele, dass das nicht reicht. Natürlich ist das Wissen in den einzelnen medizinischen Fächern enorm groß geworden. Aber egal, wie spezialisiert ich bin, ich muss alle Gebiete überblicken können und wissen, wann ich eine zusätzliche therapeutische oder ärztliche Hilfe brauche: einen Hausarzt, einen Radiologen, einen Osteopathen …

… oder einen Psychologen. „Ich bin kein Psychotherapeut“, sagte einmal ein Facharzt zu mir …

Das geht für mich gar nicht, das lässt sich einfach nicht trennen. Ich muss als Arzt in der Lage sein, die Grundproblematik zu erkennen, auch wenn es vielleicht eine psychologische ist. Ich muss und kann nicht selbst eine längere Psychotherapie anbieten, aber ich kann den Patienten darauf aufmerksam machen und eine entsprechende Behandlung empfehlen.

Wie finde ich aber den „richtigen“ Psychotherapeuten oder Osteopathen oder wen immer ich ergänzend brauche?

Das ist meistens relativ zufällig. Am besten ist, wenn der Patient sich aktiv umhört. Meistens hat irgendjemand irgendwo etwas aufgeschnappt – wenn jemand gut ist, spricht sich das immer rum. Und dann muss die Chemie stimmen zwischen Arzt und Patient. Wenn das so ist, ist die Methode eigentlich zweitrangig.

In meiner Erfahrung war es für mich das Wichtigste, dass mir jemand Mut gemacht hat. In der Schulmedizin haben mich die Ärzte mit Statistiken und Wahrscheinlichkeiten traktiert, die bei meiner Diagnose nicht wirklich berauschend waren. Komplementäre Ärzte haben mir dagegen immer erst einmal Mut gemacht, und das hat mir viel Kraft gegeben …

Wir müssen aufhören, den Patienten die Hoffnung zu nehmen! So ein Unsinn – was haben Statistiken mit dem individuellen Patienten zu tun? Es ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die schnell zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Ja, man muss dem Patienten natürlich sagen, dass eine Krankheit lebensbedrohlich sein kann. Aber mit irgendwelchen Prognosen zu hantieren, halte ich für verantwortungslos. Damit zwingt man die Patienten ja geradezu, sich Wahrscheinlichkeiten anzupassen. Medizin kann auf Dinge hinweisen, aber keine Voraussagen treffen. Studien, Statistiken sind dazu da, zu schauen, ob eine Methode besser hilft als eine andere. Das ist wichtig und gibt Orientierung im medizinischen Alltag. Mehr nicht. Viel wichtiger ist, dass der Arzt dem Patienten ein Medikament oder eine Behandlungsmethode überzeugend ans Herz legt. Erfahrungsgemäß wirkt sie dann besser – der Patient hält sich an die Vorgaben und vertraut auf die Behandlung.

Was ist das Wichtigste, was Du in bald drei Jahrzehnten ärztlicher Praxis gelernt hast?

Dass es der Patient ist, der letztendlich weiß, was ihm am besten hilft. Ich muss es nur schaffen, dass wir gemeinsam herausfinden, was es ist. Es gibt einige Patienten, die nach langer Suche aufgegeben haben – ihnen kann ich nur schwer helfen. Es gibt unter den Patienten auch Dogmatiker, die sich den Weg zur Heilung selbst verbauen, weil sie ihre Sicht so sehr einschränken. Was die Akupunktur angeht, weiß ich inzwischen, dass sie wirklich universell einsetzbar ist und nicht nur bei einigen bestimmten Erkrankungen oder Symptomen. Ich kann damit verschiedene Systeme auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene erreichen – so ist ja zum Beispiel in der Chinesischen Medizin jedes Organ mit bestimmten Eigenschaften oder Seelenzuständen verbunden. Das Qi, die Lebenskraft, umfasst alle Bereiche des Lebens, geht also auch über den Menschen hinaus. Und es ist ein Verfahren, das – abgesehen vielleicht mal von einem blauen Fleck – keine Nebenwirkungen hat. Denn in der Medizin geht es nicht nur darum, zu helfen, sondern auch so wenig wie möglich zu schaden.

Abstract

Acupuncture is not just some service, technique or method. It is an art. To be able to understand it in depth, one should detach from the needle. Whereas acupuncture can be practiced universally with almost no negative side effects, it is the unique relationship between physician and patient which lies at the heart of the treatment. It requires mutual trust and openness to achieve positive results. The most important lesson Michael Hammes learned in his professional life: “That it is the patient who eventually knows what helps him best. I just have to manage finding out with him or her what that is.”

Mehr zu Dr. Michael Hammes unter http://www.hammes-akupunktur-neurologie.de

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